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Erstmaliger Einblick ins Asylwesen«Da draussen ist die Schweiz», sagen die Kinder im Asylcamp

An sie denkt kaum jemand: Kinder, die als begleitet gelten. Das Schweizer Asylwesen schenke ihnen zu wenig Beachtung, sagt die Forscherin Clara Bombach.

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Ein Kind habe sie besonders beeindruckt, sagt Clara Bombach: Nusret. Als die Forscherin ihn 2019 kennen lernte, war er neun Jahre alt und mit seiner Mutter aus Osteuropa in die Schweiz geflüchtet. «Nusret war hilfsbereit, einfühlsam und blitzgescheit. Er sprach schnell Schweizerdeutsch und übernahm deshalb sehr viel Verantwortung für sein Alter», sagt Bombach. Er habe in ihr eine Freundin gesehen – nicht für sich, sondern für seine Mutter, die sich einsam fühlte.

365 Stunden verbrachte Ethnologin Bombach in einem kantonalen Asylzentrum. Wo genau, darf sie nicht sagen. Das war Teil ihres Vertrags. Auch Details wie der richtige Name von Nusret müssen geheim bleiben. Nur so erhielt sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit Einblick in die abgeschottete Welt des Schweizer Asylwesens. Heute ist die 37-jährige Dozentin für soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule tätig.

Die Ethnologin Clara Bombach verbrachte für ihre Dissertation 365 Stunden in einem kantonalen Asylcamp.

Während zwölf Monaten begleitete sie 44 Kinder und Jugendliche aus 20 Familien in ihrem Asylprozess – Tag und Nacht. In ihrer Arbeit geht es um die Perspektive von Kindern wie Nusret, die als «begleitet» gelten, also mit einem Elternteil, einem volljährigen Bruder oder Onkel in die Schweiz geflüchtet sind – oder erst in der Schweiz auf die Welt kamen. 41 Prozent der insgesamt 24’000 Asylsuchenden waren letztes Jahr Kinder, 2690 von ihnen Neugeborene. 

«Die Menschen sind sehr belastet»

Bombachs Arbeit zeigt, dass begleitete Kinder ähnlich vulnerabel sind wie unbegleitete minderjährige Asylsuchende, sogenannte UMA. Im Gegensatz zu ihnen aber kaum Aufmerksamkeit erhalten.

«Das Asylgesetz baut darauf, dass die begleiteten Kinder in unterstützenden und schützenden Familiensystemen aufwachsen, aber das ist eben nicht so. Diese Vorstellung muss aufgrund der Ergebnisse meiner Arbeit infrage gestellt werden. Denn durch die fremdbestimmte Platzierung und den Wartezustand sind die Menschen in den Unterkünften sehr belastet», sagt Bombach.

Immer wieder hörte die Studienautorin den Satz: «Da draussen ist die Schweiz.»

Das Camp, das Bombach besuchte, ist ein dreistöckiges, zum Abriss geplantes Gebäude in einem stadtnahen Industriequartier. Das Haus hat acht Toiletten, fünf Duschen, elf Brünneli und zwei Küchen – für 80 Personen. Privatsphäre gibt es kaum.

Um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, animierte Bombach sie, Zeichnungen anzufertigen. Auch in den vielen Gesprächen mit den Kindern wird deutlich, dass die Kinder keinen Rückzugsort haben, keinen Platz, keine Aktivitäten. «Warten, Sitzen, Schlafen, Essen», fasst Bombach ihre Situation im Asylzentrum zusammen. 

Zwar gilt in der Schweiz die sogenannte Integrationsagenda. Doch sie greift erst für Menschen, deren Asylgesuch mit einer vorübergehenden Bleibeperspektive oder der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft angenommen wurde. Bis dahin sind keine Integrationsbemühungen vorgesehen. Nur einzelne Kantone stellen freiwillig Beschäftigungsangebote oder Sprachkurse bereit. Viele Kinder hätten darum immer wieder deutlich gesagt: «Ich hasse das Camp.» Immer wieder hörte Bombach auch den Satz: «Da draussen ist die Schweiz.»

Eltern reden vor den Kindern über Suizid

Die Eltern der Kinder bezeichneten sich Bombach gegenüber als «zerbrochen», «müde», «besorgt» oder «krank». In der Studie beschreibt sie, wie einige auch tagsüber lange schlafen würden. Und manche gar in der Gegenwart ihrer Kinder Suizidgedanken äusserten. Zwei Väter hätten ihr gesagt, sie würden am liebsten in ihr Herkunftsland zurückgehen, um «dort einmal und kurz und dann richtig zu sterben, als in der Schweiz jeden Tag aufs Neue».

Das Verhalten der Eltern habe oftmals zu Konflikten mit den Mitarbeitenden geführt, sagt Bombach. «Viele verstanden nicht, wieso sich die Angehörigen nicht intensiver um ihre Kinder kümmerten, obschon sie Zeit hätten. Doch so einfach ist es nicht.» Die Angehörigen seien oft traumatisiert, bekämen kaum psychologische Betreuung, hinzu komme die Sprachbarriere.

Kinder kochen das Abendessen im Camp. Für 80 Personen stehen zwei Küchen zur Verfügung.

Also übernehmen die Kinder die Verantwortung. Sie dolmetschen, organisieren Dinge, schauen, dass die Eltern nicht noch trauriger werden. Wie Nusret, der für seine Mutter eine Freundin suchte. Mitarbeitende der Unterkunft hätten sich immer wieder erfreut darüber geäussert, dass Kinder im Camp spielen, weil die Stimmung sonst noch gedrückter wäre. Die Kinder wüssten, dass sie die Situation für alle positiv beeinflussen können. «Sie erlauben sich deshalb nicht, unglücklich zu sein. Doch Kinder sollten das nicht aushalten müssen. Das wird in der Schweiz leider noch nicht erkannt», sagt Bombach.

Keine Mindeststandards

Nina Hössli leitet die Schweizer Programme von Save the Children, nach eigenen Angaben die weltweit führende Kinderrechtsorganisation. Ihr Team hat in den letzten drei Jahren mit über 50 Asylunterkünften in der ganzen Schweiz zusammengearbeitet. Die Organisation führt regelmässig Schulungen für Mitarbeitende in diversen Asylzentren in der Deutsch- und Westschweiz auf Bundes- und Kantonsebene durch. Die einzelnen Asylzentren unterscheiden sich dabei stark bezüglich ihrer Bedingungen, Infrastruktur oder Standards. «Für Familien fühlt es sich oft willkürlich an, wo sie platziert werden oder wieviel Unterstützung sie dort erhalten», sagt sie.

Im Gegensatz zu den unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden haben begleitete Kinder oder Familien meist keine spezifischen Bezugspersonen und der Betreuungsschlüssel ist um einiges tiefer.

«Es braucht besser ausgestattete Familien­zimmer und mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten im Alltag.»

Obwohl Ressourcen fehlen, versucht Save the Children in den Schulungen und Beratungen darauf hinzuarbeiten, dass Verbesserungen auch mit den bestehenden Mitteln möglich sind. «Es braucht zum Beispiel besser ausgestattete Familienzimmer, mehr Spiel- und Lernmöglichkeiten für Kinder jeglichen Alters, mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten im Alltag sowie weniger kurzfristige und unvermittelte Transfers von einem Zentrum zu einem anderen.»

Da der Kanton geheim bleiben musste, versuchte diese Redaktion das Staatssekretariat für Migration (SEM) und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Beide Stellen wollen sich nicht äussern. Man sei dafür nicht zuständig, heisst es auf Anfrage beim SEM. Die SODK schreibt: Dafür müsste «mit allen 26 Kantonen Rücksprache genommen werden».

Sich abzugrenzen, sei ihr schwergefallen, sagt Clara Bombach. Viele Kinder schickten ihr auch später noch Briefe und Postkarten.

Clara Bombach hat die vielen Transfers hautnah miterlebt. Für die Betroffenen seien sie mit grossem Stress verbunden. Die Familien würden über Nacht über ihre Umquartierung informiert und im Unklaren darüber gelassen, wohin sie gebracht werden. 

Auch Nusret war plötzlich weg. Bombach traf ihn nach bereits zwei weiteren Verlegungen im übernächsten Camp erneut. «Er war traurig darüber, dass er sich nicht von seinen Freunden und seiner Lehrerin im stadtnahen Camp hatte verabschieden können», sagt Bombach. 

Heute ist Nusret 12 Jahre alt und lebt seit Herbst 2022 mit seiner Mutter in einer Mietwohnung. Doch vergangene Woche folgte ein weiterer Rückschlag. Er und seine Mutter erhielten einen negativen Asylentscheid – nachdem ihr Aufenthalt in der Schweiz über vier Jahre lang ungeklärt war. Sie sind nun daran, ein Härtefallgesuch vorzubereiten, um gegen den Entscheid juristisch vorzugehen. Doch sie sorgen sich, dass sie ihre Wohnung verlassen müssen und wieder in einem Camp untergebracht werden.

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